Interview Jugendliche N.

«Lange war ich nur wütend – bis ich kapierte, dass ich was ändern muss.»

«Der erste Tag war extrem komisch. Ich hatte das Gefühl, ich «passe» hier nicht her. Eher so, als wäre ich auf dem völlig falschen Planeten gelandet. Die erste Nacht war dann schlimm und die ersten Monate extrem schwer.», schildert N ihre anfänglichen Eindrücke im Bellevue. Mittlerweile ist sie froh, es durchgestanden zu haben und findet: «Es hat sich gelohnt. Heute bin ich viel stärker als vorher und habe eine Perspektive für die Zukunft». Mehr dazu erzählt sie hier…

Wie ging es dir, bevor du im Bellevue gelandet bist?
Mir ging es damals nicht gut. Die Schule hat mich nicht mehr interessiert. Es gab Leute, die mir das Leben schwer gemacht haben. Und dann neue Leute, mit denen ich gerne abhing. Ich habe angefangen, Cannabis zu nehmen. Das tat irgendwie gut. Aber meine Gesamtsituation hat es nicht besser gemacht. Ich war ohne Motivation und unterm Strich war mir alles zu viel. Ich habe in dieser Zeit nur für den Moment gelebt. Schule, Familie… das war mir egal.

Hättest du erwartet, mal in einem Heim zu leben?
Nie im Leben! Das war der totale Schock. Ich habe die Warnungen meiner Mutter und auch von der Therapeutin, zu der ich eine Zeit lang ging, nicht ernst genommen. Ich fand es ja auch nicht so schlimm, Cannabis zu nehmen oder nicht zur Schule zu gehen. Niemals hätte ich gedacht, dass mir sowas einen Heimaufenthalt einbrockt.

Wie war dann die erste Zeit im Bellevue für dich?
Ich konnte selbst als ich drin war noch nicht glauben, dass das wirklich MIR passiert. Ich habe die gesamte Aktion nicht akzeptiert, wollte mit niemandem reden, nur täglich meine Mutter anrufen. Am Telefon hab ich geweint und wollte nur, dass sie mich rausholt. Jeden Tag habe ich gefragt, wann ich wieder raus darf. Ich konnte an nichts anderes denken.

Das klingt schlimm.
Das war es auch. Ich hatte damals keine Einsicht, was ich hier soll. Ich war ja kein Junkie. Cannabis hat mich einfach beruhigt und mein Leben spannender gemacht. Das war kein Grund für eine Heimeinweisung, fand ich. Ich habe mich dann auch verstellt gegenüber den Sozialpädagoginnen. Dauernd hatte ich Angst, mein wahres Ich zu zeigen, weil ich befürchtet habe, dann noch länger bleiben zu müssen. Dass kein Austrittsdatum feststand, hat mich fertig gemacht. Was mich auch rasend gemacht hat, war das Gefühl, meine Mutter und die Sozialpädagoginnen reden «hinter meinem Rücken». Das waren Momente, in denen ich gekocht habe vor Wut.

Kam doch irgendwann ein Wendepunkt?
Ja, der kam. Aber es hat lange gedauert. Im Bellevue bekommt man eine individuelle Bezugsperson zugeteilt, die mit einem «Standortgespräche» führt. Da wird besprochen, wie es einem geht, welche Ziele man hat usw. Beim ersten habe ich noch den Ball flach gehalten und mich nicht geöffnet. Da hiess es: Du musst noch bleiben. Ich war verzweifelt. Ich hatte mir so Mühe gegeben, alles «richtig» zu machen. Und dann sowas! Ich fand das – inklusive der wöchentlichen Drogentests – eine komplette Zumutung.

Und dann?
Irgendwann habe ich kapiert, dass es nicht um mechanisches «richtig machen» geht, sondern dass ich an mir arbeiten muss. In Gesprächen wurde mir irgendwann klar, dass jede Handlung Konsequenzen hat: gute oder schlechte. Wir haben Ziele vereinbart und es lag an mir, ob ich die erreichen will – oder es bleiben lasse. Zum Beispiel, mich mehr in die Gemeinschaft einbringen. Wenn was schief ging, wurde nie rumgebrüllt, sondern mit viel Geduld weiter dran gearbeitet.
Trotzdem ist mir der Aufenthalt auch dann noch schwergefallen. Jeder Tag war gleich, immer der gleiche Ablauf, feste Strukturen. Das war schon hart.

Nun ist diese schwierige Zeit zum Glück überstanden. Gibt es rückblickend etwas, wovon du sagen würdest: In diesem Bereich hat das Bellevue mir wirklich etwas gebracht?
Tatsächlich habe ich dank dem Bellevue wieder Freude am Lernen gefunden. Die Lehrer, die hier unterrichten, sind so motivierend und total gebildet. Es sind tolle Vorbilder und man bekommt Lust, es ihnen nachzumachen. Durch sie und die Sozialpädagoginnen ist mir klar geworden: Es liegt an mir, ob ich eine gute Zukunft anstrebe oder nicht. Heute bin ich extrem gut in der Schule und bin viel selbstbewusster. Das finde ich gut.

Was würdest du den Jugendlichen sagen, die nach dir ins Bellevue kommen?
Für mich war es extrem schwierig, weg von daheim zu sein. Zwischendrin ging es mir immer wieder richtig mies. Aber es lohnt sich, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Man weiss erst, wie stark man ist und was man alles erreichen kann, wenn man es ausprobiert.