Interview Jugendliche L.

«Mal Abstand von dem Mist draussen zu kriegen, hat gut getan»

«Als ich vor der Tür stand, wollte ich nur wegrennen. Ich hatte Schiss vorm Tagesablauf und sowieso vor allem», gibt L. zu, wenn sie an ihre Ankunft in der Jugendstätte Bellevue denkt. Heute ist sie froh, um die Zeit dort und erzählt im Gespräch, wieso das so ist.

L., erinnerst du dich noch an deinen ersten Tag als du in die Jugendstätte Bellevue kamst? Wie war das?
Ja, ich erinnere mich sogar noch an das genaue Datum. Das war im April 2016. Und die Ankunft war eine Katastrophe. Ich hab’ mich gefühlt, als käme ich nun in den Knast. Die Eingangstür war verschlossen. Man muss klingeln, dann öffnet sich eine Tür. Du gehst rein und wartest, dass sich die Tür hinter dir schliesst, denn erst dann geht die nächste Tür vor dir auf. Und die Fenster waren vergittert. Ich wollte da keine Sekunde bleiben. Ich dachte nur dran, sofort wieder auf Kurve zu gehen.

Oh. Mit so miesen Gefühlen ist es sicher nicht leicht, sich dann einzuleben? Wie war das bei dir?
Der Anfang war heftig. Ich kam in der Jugendstätte Bellevue erst mal auf die geschlossene Intensivgruppe. Da musste ich auch für die ersten Wochen mein Handy abgeben. Das war zunächst total übel. Aber irgendwie auch gut, weil ich erst mal Ruhe hatte vor den schlechten Typen, mit denen ich ansonsten draussen zu tun hatte. Und es gab auch ziemlich viele Regeln, die man dir macht. Ich wollte das alles nicht und bin daher bei der ersten Möglichkeit auch wieder auf Kurve gegangen. Da war ich drei Wochen weg, bis die Polizei mich gefunden und wieder zurückgebracht hat.

Wie ging’s weiter, nachdem du zurück warst?
Naja, das war schon eine ziemlich langwierige Sache. Ich bin noch ein paar Mal abgehauen. Aber die in der Jugendstätte Bellevue haben mich nie dafür bestraft. Es war andersrum: Es gab Belohnungen im Sinn von mehr Freiheiten oder so, wenn mal was gut lief. Allmählich hatte ich dann auch immer weniger Lust, auf Kurve zu gehen. Ich hab’ immer mehr gemerkt, dass mich das kaputt macht, weil die Leute, mit denen ich abhing mir echt nicht gut taten und weil da auch immer Drogen mit im Spiel waren.

Jetzt muss ich nachfragen: Wieso hast du gemerkt, was dir nicht gut tut und was heisst «Wenn mal was gut lief»?
Eine ganz wichtige Sache in der Jugendstätte Bellevue ist ja, dass man da viele Gespräche mit den Sozialpädagogen führt. Ich hatte eine ganz tolle Betreuerin. Die hat sich sehr intensiv mit mir unterhalten und da ist mir vieles klar geworden. Ausserdem hat sie mir Perspektiven aufgezeigt und immer ein Ziel mit mir vereinbart, auf das ich hinarbeiten konnte. Und am Ende vom Monat haben wir geschaut, ob das Ziel erreicht wurde. Wenn das gelungen ist, durfte ich zum Beispiel mehr in den Ausgang, länger aufbleiben, bekam mehr Geld und so weiter. Das hat mich natürlich motiviert.

Du hast eben erzählt, dass du am Anfang auf der geschlossenen Intensivgruppe warst. Wie war es da und wie lange warst du dort?
Insgesamt war ich sieben Monate auf der Geschlossenen. Das ist wohl eher ungewöhnlich, so lange. Aber zum einen bin ich halt bei jeder Gelegenheit abgehauen und später, als ich auf die Offene sollte, wollte ich da gar nicht so richtig hin. Aber die Bellevue-Leute haben meine Bedenken ernst genommen und mich gut auf den Wechsel vorbereitet.

Heisst das, auf der Geschlossenen war einfach alles so rosarot, dass du nicht weg wolltest?
Nein, das kann man so nicht sagen… Hin und wieder sind zum Beispiel Sachen verschwunden. Oder es hat natürlich auch Streit gegeben, weil wer gelogen hat. Und manche Mädels haben versucht, einen zu animieren, doch auf Kurve zu gehen. Auch das mit dem Freundschaftenschliessen war eher schwierig, wobei es natürlich auch Jugendliche gab, die sich gut verstanden haben.

Nach der Geschlossenen ging es zunächst auf die offene Wohngruppe und danach auf die sogenannte «Aussenwohngruppe». Was ist das?
Die Aussenwohngruppe ist sowas wie eine WG. Man wohnt da mit anderen zusammen. Drei Mal die Woche kommt eine Betreuungsperson vorbei und schaut, wie alles läuft und gibt Tipps, wenn man Fragen hat. Aber man ist da sehr selbstständig, führt seinen Haushalt alleine, hat verschiedene Arbeitseinsätze und macht zum Beispiel berufsvorbereitende Praktika und so weiter.

Nun wohnst du nicht mehr in der Aussenwohngruppe der Jugendstätte Bellevue, sondern wieder zuhause. Gibt es was, das du am Bellevue als weniger gut in Erinnerung behalten wirst?
Mmmh. Rückblickend vielleicht, dass die Jugendlichen, die mehr Terror machen, mehr betüddelt werden als diejenigen, die eher ruhig sind. Aber sonst fällt mir eigentlich nichts ein.

Und gibt es Dinge, über die du im Nachhinein froh bist?
Ich bin echt froh, dass ich in der Jugendstätte Bellevue meinen Schulabschluss machen konnte. Die Lehrer da haben sich total Mühe gegeben und sind auf meine Stärken und Schwächen eingegangen. Dadurch sind meine Noten viel besser geworden. Und ich fand es toll, dass man mir die nötigen Bücher organisiert hat, als klar war, dass ich mich für eine Lehre im Detailhandel interessiere.
Ausserdem fand ich es gut, dass auch mal ein Auge zugedrückt wurde, wenn man zum Beispiel irgendwo heimlich geraucht hat und das aufflog. Da hat dann keiner gross deswegen rum gemacht.

Was wäre dein Tipp an eine Jugendliche, die neu in die Jugendstätte Bellevue kommt?
Oft hört man ja, die Jugendstätte Bellevue wäre ein Knast und man würde dort Kinderarbeit machen müssen und so weiter. Aber das ist Schwachsinn. Klar muss man auch selbst was dafür tun, dass es läuft. Aber man bekommt super Unterstützung. Ich fände es daher gut, eine Neue würde versuchen, nicht nur auf «anti» zu machen und alles nur schlecht zu finden. Sondern sie soll sich auch mal auf was einlassen und auf das hören, was die Sozialpädagogen mit ihr besprechen. Bei mir hat’s auch eine Weile gebraucht, bis ich das geschafft habe. Aber ehrlich gesagt, wäre ich heute ohne das Bellevue wahrscheinlich voll auf der Strasse: Mit Drogen und ohne Familie.